Lüttich, 01.07.2012 – Acht Etappensiege hat Fabian Cancellara (RadioShack-Nissan) bislang bei der Tour de France errungen, nur einen davon nicht in einem Zeitfahren. 2007 gewann der Schweizer, nach seinem Prologsieg in Gelb fahrend, mit einer überraschenden Attacke in Compiègne. Heute hätte er dies fast wiederholt, attackierte am kleinen Schlussanstieg 1,5 Kilometer vor dem Ziel. Doch Peter Sagan (Liquigas) reagierte aufmerksam, blieb am hingebungsvoll kämpfenden Cancellara dran und war schließlich im Sprint einen Tick stärker. Der Slowake bewies durch seinen 14. Saisonerfolg, dass er mit 22 Jahren schon abgezockt genug ist, bei der Tour de France für Furore zu sorgen.
Ausreißergruppe mit vier Franzosen, aber ohne Belgier
Startzeremonie in Lüttich (Foto: letour.fr)
Unter bewölktem Himmel startete die 1. Etappe der Frankreich-Rundfahrt in Lüttich, wo sie gestern mit einem Prolog begonnen hatte. Noch einmal wurde der Grand Départ ausgiebig zelebriert: Das Feld fuhr eine lange Neutralisation durch die Stadt und hielt zwischendurch auf der Place Saint-Lambert an, um Brabançonne und Marseillaise zu lauschen, den Nationalhymnen Belgiens und Frankreichs. Nach dem scharfen Start begab sich das Peloton auf eine 198 Kilometer lange Schleife südlich von Lüttich, die ins nahegelegene Seraing führte. Schon nach drei Kilometern entstand eine sechsköpfige Ausreißergruppe, jedoch ohne Beteiligung von einem der 14 im Rennen befindlichen Belgier. Wesentlich präsenter zeigten sich die Franzosen; mit Yohann Gène (Europcar), Maxime Bouet (Ag2r La Mondiale), Nicolas Edet (Cofidis) und Anthony Delaplace (Saur-Sojasun) waren sie zu viert dabei. Edet wurde am Ende als kämpferischster Fahrer ausgezeichnet, weil sein Angriff die Gruppe ausgelöst hatte. Dabei wäre diese beinahe viel zu früh gestoppt wurden, weil sie bei Kilometer 24 an einer Bahnschranke warten musste. Doch es blieb nach diesem Vorfall ein klein wenig Vorsprung übrig, den sie in der Folge auf über vier Minuten ausbauten. Neben den erwähnten Franzosen befanden sich noch zwei weitere Fahrer in der Spitzengruppe, der Baske Pablo Urtasun (Euskaltel) und Michael Mørkøv (Saxo Bank-Tinkoff Bank) aus Dänemark. Diese beiden erwiesen sich als stärkste Fahrer, als der Kampf um das Bergtrikot anstand.
Bahnspezialist Mørkøv erobert das Maillot à pois rouges
Mørkøv im Bergtrikot (Foto: letour.fr)
In der hügeligen Wallonie wurden während der Etappe vier Anstiege überquert, die mit Bergwertungen der 4. Kategorie versehen waren und somit jeweils einen Punkt für das Bergklassement abwarfen. Den ersten holte sich Mørkøv auf der Côte de Cokaifagne, den zweiten Urtasun auf der Côte de Francorchamps. Jene beiden Prämien lagen dicht beieinander zwischen Kilometer 40 und 50. Danach dauerte es deutlich länger, bis die Côte de Lierneux erreicht wurde, wo Mørkøv wieder vorne lag. Die Entscheidung um das gepunktete Trikot fiel nach 139 Kilometern auf der Côte de Barvaux, wo der Bahnspezialist abermals den Zweikampf gegen Urtasun gewann. Zwischen dritter und vierter Bergwertung lag der Zwischensprint, dessen Sieg sich Gène sicherte. Dort blieben noch für neun Fahrer aus dem Feld Punkte übrig, um welche die Sprinter ohne Zurückhaltung mit vollem Einsatz kämpften. Matthew Goss (Orica-GreenEdge) gelang ein kleiner Achtungserfolg, er setzte sich vor Mark Cavendish (Sky ProCycling) und André Greipel (Lotto Belisol) durch. Mehrere Stürze im Feld zu Beginn der letzten 25 Kilometer – einer davon ausgelöst durch einen unachtsamen Hobbyfotografen – konnten die Ausreißer nicht mehr retten, RadioShack hatte zuvor schon zu gut darauf geachtet, ihren Vorsprung in Grenzen zu halten. An der 10-Kilometer-Marke begannen in der Gruppe die Attacken untereinander, die schnell beendet waren, weil nun Lotto Belisol mit unwiderstehlicher Tempoarbeit begann.
Cancellara greift an und unterliegt Sagan im Sprintduell
Sagan siegt in Seraing (Foto: letour.fr)
Die Lotto-Mannschaft bereitete das Finale – 2400 ansteigende Meter in Seraing – für Jurgen Van Den Broeck vor, der bei einer ähnlichen Ankunft auf der 1. Etappe der Tour 2011 beim Sieg seines belgischen Landsmannes Philippe Gilbert (BMC Racing Team) Fünfter wurde. Doch ein Heimsieg war ihnen beiden nicht vergönnt und auch der Einsatz von Sylvain Chavanel (Omega Pharma-Quick Step), der in der Steigung den ersten verheißungsvollen Antritt zeigte, war nicht von Erfolg gekrönt. Stattdessen sorgte Fabian Cancellara (RadioShack-Nissan), der nicht nur das Gelbe Trikot verteidigen, sondern nach dem Prolog gleich noch einen weiteren Sieg wollte, 1,5 Kilometer vor dem Ziel für die Vorentscheidung. Zu seinem Pech konnte Peter Sagan (Liquigas) sofort reagieren und sich an das Hinterrad des Schweizers klemmen. Sagan ist ein Mann, dem Cancellara unter normalen Umständen im Sprint unterlegen ist. Da es zum Ziel hin etwas flacher wurde, konnte Sagan, der Cancellara allein die Führungsarbeit verrichten ließ, seine Endschnelligkeit gewinnbringend ausspielen. Dies war schon der 14. Saisonerfolg des jungen Slowaken, der nach Erfolgsserien bei Tour of California (5 Etappen) und Tour de Suisse (4 Etappen) nun auch der Tour de France seinen Stempel aufdrücken will. In seiner offensichtlich guten Form ist er ein ernstzunehmender Anwärter auf das Grüne Trikot, welches er nun stellvertretend für den in der Punktewertung führenden Cancellara trägt.
Gestern Defekt, heute Sturz: Tony Martin wieder im Pech
Zielfoto der 1. Etappe (Foto: letour.fr)
Die Steigung in Seraing war vor allem zu Beginn ziemlich steil und zerfetzte das Peloton vielleicht doch stärker als im Vorfeld angenommen. Dem BMC Racing Team war es zu verdanken, dass das Hauptfeld, welches nur mehr knapp 50 Fahrer umfasste, keine Zeit auf Sagan und Cancellara verlor. Erst hatte Cadel Evans, dann Gilbert für die Nachführarbeit gesorgt. Gilbert wurde am Ende Vierter, noch hinter Edvald Boasson Hagen (Sky ProCycling), der alleine zum Spitzenduo hingefahren war, dann aber nicht mehr über genug Kraft verfügte, um im Sprint dagegenzuhalten. Bradley Wiggins (Sky ProCycling) gab sich keine Blöße und bleibt mit sieben Sekunden Rückstand zeitgleich vor Chavanel Zweiter der Gesamtwertung, der beste Nachwuchsfahrer Tejay Van Garderen (BMC Racing Team) behauptete Rang vier. Etwas Zeit verloren dagegen beispielsweise Tour-de-Suisse-Sieger Rui Costa (Movistar) und Levi Leipheimer (Omega Pharma-Quick Step / beide 17 Sekunden), Vuelta-Gewinner Juan José Cobo (Movistar / 23) und Chris Horner (RadioShack-Nissan / 55). Ohne Zeitverlust blieb Tony Martin (Omega Pharma-Quick Step), was angesichts eines Sturzes früh im Rennen ein gutes Zeichen sein sollte. Wegen Verletzungen an Schulter und Handgelenk wurde der deutsche Zeitfahrmeister trotzdem zum Röntgen in ein Krankenhaus gebracht.
Der morgige Montag ist der letzte Tour-Tag in Belgien. Die 2. Etappe führt über 207,5 Kilometer von Visé nach Tournai und ist mit ihrem deutlich flacheren Profil für einen Massensprint prädestiniert.
Video-Zusammenfassung vom Veranstalter
Peter Sagan gewinnt die 1. Etappe der Tour de France in Seraing (Foto: letour.fr)
Cancellara assistiert im Maillo Jaune bei der Startzeremonie in Lüttich (Foto: letour.fr)
Das Zielfoto der 1. Etappe: Sagan vor Cancellara, Boasson Hagen und Gilbert (Foto: letour.fr)
Ausreißer Michael Mørkøv eroberte das Bergtrikot (Foto: letour.fr)